Gewalt gegen Sexarbeitende ist rechte Gewalt!

Das, was jetzt kommt: überfällig.
Dass es überhaupt gesagt werden muss: traurig.
Denn es zeigt, wie entsolidarisiert Menschen beim Thema Sexarbeit sind.

Viele halten die schrillen, oft erhitzten Auseinandersetzungen um Sexarbeit entweder für einen „(feministischen) Meinungsstreit“, eine moralische Zumutung oder an sich irrelevant.

Solche „Haltungen“ schaden Sexarbeiter*innen und zwar aktiv.

Wer kennt denn echte Fakten über die Lebens- und Arbeitsbedingungen, Bedürfnisse oder Wünsche sexarbeitender Menschen? Die Bilder im Kopf der Mehrheitsgesellschaft stammen aus vordigitaler Zeit und entsprechen oft nicht der heutigen Situation post-Covid19 und einer festungsartig abgeriegelten Europäischen Union.

Während die Einen keine Lust auf feministische Meinungsdebatten haben ist Manchen das Thema zu anrüchig und wieder Andere haben längst entschieden, dass Sexarbeit auf den Müll der Geschichte gehört.

An Euch alle richte ich diese erschütternde (?) Nachricht:

Wir existieren.

Entsolidarisierung beim Thema Sexarbeit bedeutet das Leben realer Personen aktiv schwerer, härter und leidvoller zu machen. Vielleicht kennt Ihr keine Sexarbeitende persönlich und legt auch keinen Wert darauf sie kennenzulernen. Vielleicht sind sie Euch gleichgültig oder Ihr habt nichts als Verachtung oder Hass für uns übrig.
Aber: Wir existieren.

Nachdem das geklärt ist, zurück zum Thema rechte Gewalt.

Mir wird immer wieder entgegengehalten, dass Gewalt gegen Sexarbeitende ja keine rechte Gewalt sei. Wenn ich frage, „Was denn sonst?“ bekomme ich selten eine Antwort. Da kickt wohl das Unbehagen: Weiß ich nicht…
Will ich nicht wissen…
Whatever…

Sexarbeiter*innen kämpfen  um Arbeitsrechte, die ihnen die Gesellschaft vorenthält. Sie kämpfen um Inklusion. Ums Mitgedacht werden, statt Hass und Verachtung zu ernten.

Viele wissen nicht, dass Dirnen im Mittelalter Schandfarben tragen mussten. Dass sie aus den Stadtmauern verbannt und verjagt wurden. Währenddessen gab es aber auch kirchliche Bordelle. Dahinter steckt keine Akzeptanz dieser Arbeit, sondern die Haltung, dass Prostituierte als eine Art Ventil herhalten sollten. Wem das bekannt vorkommt denkt wohl an das furchtbare, dennoch verbreitete Argument, dass „Ohne die Huren ja die Zahl der Vergewaltigungen steigen würde“.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Sexarbeiter*innen wurden und werden für vieles angegriffen:  Geschlecht oder Gender, promisken Lebensstil, Herkunft, Körper und soziale Klasse.

Angriffe auf Sexarbeitende sind motiviert durch Zuschreibungen und Feindbilder: böser Blick, Ehebrechen, Sünde, Sittenlosigkeit, Gefahr für Kinder und Familien, Asozialität, Kriminalität und Devianz. Und noch vieles mehr.

Aktuelle Angriffe auf Sexarbeiter*innen sind meist gegen illegalisierte Migration gerichtet und mit konservativer Moral verschränkt. Während die konservative bis sozialdemokratische Politik es mehr oder weniger offen sagt „Die wollen wir hier nicht“ oder „Die sollen erst gar nicht herkommen“, hübschen andere ihre Begründung mit „Menschenwürde“ auf. Egal, ob offen konservativ gegen Migration gerichtet oder als Anteilnahme kostümiert: es ist und bleibt eine sexarbeitsfeindliche Haltung.

Menschenwürde, anybody?!

Die Menschenwürde ist ihnen nämlich regelmäßig dann gleichgültig, wenn es nicht um die „Rettung von Prostituierten“ im engeren Sinne handelt.

Was ich meine:
Ertrinken 33000 Menschen  im Mittelmeer, aber Prostitutionsgegnerinnen reden nicht über die Menschenwürde dieser zu beklagenden Toten, oder  fragen: Wie das hätte verhindert werden können?

Knapp 20% der deutschen Bevölkerung lebt in Armut und ein sehr viel höherer Prozentsatz weltweit: kein Aufschrei von Prostitutionsgegnerinnen wegen der Menschenwürde dieser Getroffenen von Klassismus.

Behinderte werden für 1,46€ pro Stunde in Werkstätten ausgebeutet, Menschenwürde anybody?!

Die Menschenwürde ist Feind*innen von Sexarbeit solange wichtig, wie sie dazu instrumentalisiert werden kann, Prostitution zu verbieten.
End of story.

Menschen in der Prostitution werden in vielen Gesellschaften ausgeschlossen und verfolgt. Nicht erst heute, sondern seit Jahrhunderten. Die Nazis ermordeten, verschleppten und zwangsterilisierten sog. Lotterdirnen. Ist das aufgearbeitet worden? Nein. Gab es da mal eine Entschuldigung? Nein. Im Gegenteil: die Verfolgung von Promiskuität und „asozialem“ Verhalten ging nach 1945 unverändert weiter: In Tripperburgen, geschlossenen Psychiatrie und in der klassistischen Stigmatisierung von Armut und Substanzgebrauch.

Es ist unentschuldbar, dass die Zivilgesellschaft das nicht sehen will.

Attentat von Atlanta 2021

Eine Ohrfeige, wenn der Attentäter von Atlanta 2021 Sexarbeiter*innen ermordet und kein*e Journalist*in den Anstand besitzt, das zu erwähnen?
Aber vom hohen Ross der Moral tote Huren beklagen und gleichzeitig ein Komplettverbot fordern. „Zum Schutz der Frauen.“ Das geht klar.
Eure Doppelmoral widert mich an.

Die Diskriminierung von Sexarbeiter*innen fällt nicht unter das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Noch nicht.
Warum machen Menschen, die wegen der „Menschenwürde“ Prostitution verbieten wollen, nicht DAS zu ihrem Thema?

Kann ich beantworten: Es würde Arbeit, Selbstreflexion und Umdenken bedeuten. Der Hurenhass lässt sich dann nicht mehr so schön hinter wohlklingenden Phrasen, wie „Menschenwürde“ verstecken.

Es ist allerhöchste Zeit für wichtige Aufklärung

Politische Bildung, Rechtsextremismusprävention und Anti-Diskriminerungsverbände müssen beim Thema Sexarbeitsfeindlichkeit endlich aufwachen.

Ihnen entgeht da ganz schön viel:

Zum Beispiel die christliche Rechte, die sich in der Sozialen Arbeit breit macht und gegen Prostitution, Promiskuität und reproduktive Rechte wettert. Und zwar im Gewand der Wohlfahrt und unter dem Deckmantel kirchlicher Träger, wie Diakonie oder Diakonische Werke.

Familistische Akteure, die vom Schutz der Allgemeinheit reden und die Gesellschaft von Vielfalt „säubern“ möchten. Sehr anschlussfähig mit konservativen, migrationsfeindlichen Positionen, übrigens, wie die aktuelle Freibad-Debatte oder die Sylvesterdebatte zeigen.

Strafrechtsfeminist*innen, die queerfeindlich, sexarbeitsfeindlich und transfeindlich sind und nicht vor Doxxing, physischer Gewalt und SLAPPs zurückschrecken. Oft in Kombination mit antimuslimischen Rassismus. Und in Personalunion mit der christlichen Rechten jedes Jahr beim sog. Marsch für das Leben.

Bildungsinitiativen gegen Rechts haben zwar mittlerweile das Thema „Gender“ für sich entdeckt.  Gut so. Aber beim Thema „Sexarbeit und Sexarbeitsfeindlichkeit“ stehen die Ohren immer noch auf Durchzug. Haben wir keine Zeit zu. Oh, da fehlt uns die Expertise. Uppsa.

How dare you?

Bei allen emanzipatorischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte haben Sexarbeiter*innen mitgewirkt. Wie könnt Ihr uns nur so die Solidarität entziehen?

Und bevor Ihr jetzt reklamiert: Fehlerfreundlichkeit und mein Ton und überhaupt.
Lasst es doch einfach mal an Euch ran. Beginnt Euch zu informieren. Und zu lernen.