Ist das Cancel Culture, wenn Sexarbeitende oder Forschende zu Wort kommen?

Bericht vom Kirchentag 2025

4 Figuren denken im Cartoo - Stil nach und haben eine Idee (Sprechblase mit Glühbirne), darüber steht: Cancel Culture? Wie auf Störaktionen reagieren?

Gastbeitrag von einer Teilnehmerin, die anonym bleiben möchte

Am 2. Mai 2025 habe ich die Podiumsdiskussion zum Thema „Wie kann eine gerechtere Prostitutionspolitik aussehen?“ auf dem Kirchentag in Hannover besucht. Es waren folgende Gäst*innen aufs Podium geladen:

Historikerin Sonja Dolinsek, Rassismusforscherin Dr. Nathalie Eleyth, Sexarbeiterin „Maria Magdala“ vom BesD, Kulturantrhopologin Dr. Ursula Probst und die Leiterin der Dortmunder Mitternachtsmission, Andrea Hitzke. Die Moderation wurde übernommen von Pastorin Susanne Paul aus Hannover. Caspar Tate, der Projektleiter von Transsexworks, musste aus gesundheitlichen Gründen leider absagen.

Die Veranstaltung begann mit einem Input von Sonja Dolinsek. Der Vortag ist online nachzulesen:

https://prostitutionspolitik.net/2025/05/02/kirchentag-2025-eine-gerechte-prostitutionspolitik/

Danach folgten einige konkrete Fragestellungen von der Moderatorin an ihre Gäst*innen.

In meiner Wahrnehmung haben die Redner*innen qualifizierte Beiträge geliefert, differenziert, faktenbasiert, stets unter Angabe von Quellen.

Die Veranstaltung war so konzipiert, dass die Zuhörenden ihre Fragen auf Zettel notieren konnten. Diese wurden während der Veranstaltung eingesammelt, von einer Jury geclustert und später von der Moderatorin an die Podiumsteilnehmer*innen gestellt. Die Fragen, die dann aus dem Publikum kamen, haben mich sehr überrascht und erschüttert. Zum Beispiel wurde die Frage gestellt, ob Sexarbeit denn wirklich freiwillig sein könne?

Auf diese Frage wurde während der Talkrunde schon hinreichend Bezug genommen, und ich habe sie als „Ohrfeige“ gegenüber denjenigen empfunden, die dort oben auf dem Podium saßen. Eine weitere Frage war, warum denn niemand zu dem Podium geladen worden sei, der*die zum Beispiel das sogenannte „nordische Modell“ befürworte. Auf diese Frage hat Frau Paul geantwortet, dass das Podium ganz bewusst so ausgewählt worden sei.

Generell habe ich die Fragen als mindestens kritisch, wenn nicht gar sexarbeitsfeindlich wahrgenommen.

Doch damit nicht genug. Nach gut der Hälfte der Veranstaltung kam es zu einer massiven Störung durch eine Person des Vereins „Sisters e.V.“ Eine der Frauen sprang auf und redete einfach lautstark und unaufgefordert drauflos. Ihr wurde ein Mikrofon in die Hand gegeben, damit sie besser verstanden werden kann. Sie sagte, sie sei Opfer von Menschenhandel und sie habe einen lateinamerikanischen Hintergrund, und sie fragte, ans Podium gerichtet, ob jemand von ihnen schon einmal diese unsäglichen Freierforen/ Huren-Test-Foren gelesen hätte, wo die Sexarbeiter*innen in unmenschlicher Weise bewertet werden. Anschließend stellte sie die Frage, ob die Menschen auf dem Podium dann tatsächlich behaupten wollen, dass es in der Sexarbeit kein Rassismusproblem gäbe? Darauf reagierte die Rassismusforscherin Dr. Eleyth sehr klar, indem sie der Frau von Sisters zunächst Recht gab, was diese Foren betrifft. Sie habe die Foren auch gelesen und distanziere sich ausdrücklich davon. Daraufhin ordnete Dr. Eleyth in aller Deutlichkeit ein, dass niemand behauptet habe, dass es in der Sexarbeit kein Rassismusproblem gäbe, es sei nur kein sexarbeitsspezifisches Problem, sondern ein Gesamtgesellschaftliches. Die Frau von Sisters war sehr, sehr aufgebracht und fuhr mit ihren Behauptungen und Anschuldigungen fort.

Als ihr das Mikro wieder abgenommen wurde, sagte sie, das sei ja mal wieder typisch, jemandem wie ihr werde nie zugehört und eine Stimme gegeben.

Pastorin Paul hat die Situation gut eingefangen, indem sie betont hat, dass ihr ja sehr wohl ein Mikrofon gegeben worden sei, obwohl das Konzept der Veranstaltung ja eigentlich ein anderes war.

Obwohl der Umgang der Moderatorin und der Podiumsteilnehmerinnen mit der Störsituation klar und professionell war, hatte ich den Eindruck, als wären die Veranstalter*innen auf diese Situation nicht vorbereitet gewesen.

Die Reaktion auf die Störung wirkte auf mich eher spontan.

Dennoch habe ich großen Respekt vor den Menschen, die diese Veranstaltung geplant und durchgeführt haben.

Von Besucher*innen solcher Veranstaltungen würde ich mir wünschen, sich auf das Gehörte einzulassen und eigene Moralvorstellungen zurückzustellen, um eine sachliche und differenzierte Perspektive einnehmen und Anderen ihre selbstbestimmte Entscheidungsfreiheit lassen zu können.