Erinnerungspolitik: Ein „Messing-Bordstein“ vor der Herbertstraße?

Das Vorhaben an sich ist eine gute Sache: Dem Gedenken an als „asozial“ stigmatisierte und verfolgte Sexarbeiter*innen im Nationalsozialismus soll endlich Raum gegeben werden. Gerade in Hamburg gäbe es dafür auch viele, viele Gründe.

Und doch hat die geplante Verlegung eines „Messing-Bordsteins“ vor der Herbertstraße in Hamburg einige Haken:

  • übereilt
  • nicht auf dem aktuellen Forschungsstand
  • keine Einbindung von Sexarbeiter*innen
  • nicht inklusiv gegenüber Sexarbeitenden aller Geschlechtsidentitäten

Dies ist nur eine Auswahl der Argumente, die gegen das geplante Vorhaben sprechen.
Die Verantwortlichen für den Messing-Bordstein hüllen sich seit Wochen in Schweigen. Ihre Taktik wirkt auf mich leider so:

Verzögern und Vertrösten und einfach so weiter machen, wie bisher geplant.
Kritik, Einwände, Gesprächsangebote perlen bislang von den Verantwortlichen ab. Dabei raten eine Vielzahl von Perspektiven auf das Thema von der geplanten Umsetzung ab und warben stattdessen um einen Prozess der Beteiligung. Forschende, Initiativen für Erinnerungspolitik und Gedenken, Sexarbeiter*innen haben erfolglos versucht ihre Einwände gegen den Messing-Bordstein zu Gehör zu bringen.

Aus diesem Grunde mache ich heute mein Anschreiben vom 22.7.24 an die Verantwortlichen öffentlich.
Ich bin sehr enttäuscht, dass sich in der Sache bisher kaum etwas bewegt hat. Parallel entsteht gerade ein Offener Brief gearbeitet, denn es ist notwendig die Einwände und Argumente gegen die geplante Umsetzung zu dokumentieren. Erinnerungspolitik von oben nach unten hat lange verhindert, dass den „Asozialen“ als Opfergruppe der nationalsozialistischen Verfolgung überhaupt gedacht wurde. Mir ist komplett unklar, wieso das heute so fortgeführt wird, gerade angesichts sexarbeitsfeindlicher Kontinuitäten.

Der Verein Lebendiges Kulturerbe St. Pauli und die Sankt Pauli – Kirche laden bereits in zwei Tagen am 9.8.2024 pressewirksam zur Verlegung des Bordsteins ein.
Eine Sexarbeiter*in wird auf der Pressekonferenz nicht zu Wort kommen.

Wer sich für das Mitzeichnen des Offenen Briefs interessiert, meldet sich bitte gern bei mir:
ruby@rubyrebelde.com

Das Anschreiben vom 22.7.2024
Sehr geehrte Mitwirkende bei Lebendiges Kulturerbe Sankt Pauli und Sankt Pauli Kirche, lieber Herr Wilm!

mein Name ist Ruby Rebelde. Ich arbeite und publiziere zu Sexarbeitsfeindlichkeit sowie der Verfolgungsgeschichte von Sexarbeiter*innen, historisch und aktuell.
Heute setze mich mit Ihnen anlässlich der für den 9.8.2024 angesetzten Pressekonferenz zur Einweihung einer geprägten Gedenk-Bordsteinkante für Sexarbeiterinnen während des NS-Regimes in Verbindung.
Grundsätzlich begrüße ich die Initiative, Sexarbeiter*innen als asozial verfolgten Menschen in Hamburg zu gedenken. Ich denke, wir können uns alle darauf einigen, dass dieses Thema bislang zu wenig Beachtung erfahren hat.

Als ich die Ankündigung für die Pressekonferenz am 9.8. gelesen habe und realisierte, dass das Projekt bereits in kaum drei Wochen zur Umsetzung ansteht, bin ich erschrocken.
Pastor Wilm hatte in unserem kürzlichen Emailwechsel gar nicht nicht erwähnt, dass die Pläne schon so weit gediehen sind?
Sehe ich es also richtig, dass kaum 4 Monate seit dem Beschluss der Bezirksversammlung bis heute verstrichen sind? Obwohl ich mich zum Beispiel ehrenamtlich am Runden Tisch Prostitution der Stadt Hamburg als Sexarbeiter*in engagiere, bin ich erst vor wenigen Wochen auf Ihre Pläne aufmerksam gemacht geworden.
Nachdem ich mich in Ihr Vorhaben eingearbeitet habe – unter Anderem anhand der Medienbeiträge von NDR und SPIEGEL frage ich mich, ob Sie in Ihre Überlegungen sexarbeitende Menschen einbezogen haben und wenn ja, in welcher Hinsicht?

Eine erste Email halte ich für ungeeignet um umfassend auf meine Vorbehalte angesichts der geplanten Tafel einzugehen. Deswegen beschränke ich mich zunächst auf 3 Punkte:

1. Aus dem NDR-Beitrag vom 3.6. geht hervor, dass der Kantstein wie folgt beschriftet werden soll:

Entrechtet, ausgegrenzt, ermordet.
1933-1945
Im Gedenken an die Frauen in der Herbertstraße & anderswo

In meinen Augen entsteht so ein grundfalscher Eindruck, nämlich, dass die Ausgrenzung von Sexarbeiterinnen ein Phänomen des NS gewesen wäre. Das ist tatsächlich so nicht der Fall. Das Konzept der Verfolgung asozialer Personen ist keine Erfindung des NS-Regimes, sondern hat (nicht nur in Hamburg) direkte Vorläufer in Kaiserreich und Weimarer Republik und seine Kontinuitäten nach 1945 bis heute. In Figuren wie Käthe Petersen, Oskar Martini oder an Konzepten wie dem Bielefelder System oder dem Arbeitshaus Farmsen werden diese Kontinuitäten greifbar und sind in Hamburg ja auch dank der Arbeiten von Gaby Zürn, Christiane Rothmaler und anderen bereits seit den 1980ern in die Debatte eingebracht worden. Was die Kontinuitäten anbelangt: In Hamburg gilt seit mehr als einem Jahrzehnt die Kontaktverbots-Verordnung, deren gegenwärtiger Zweck die Verdrängung sichtbarer Sexarbeit aus dem öffentlichen Raum ist. Zudem wird Ihnen sicherlich die anhaltende politische Debatte über die Einführung eines Sexkaufverbot in Deutschland aufgefallen sein? Verdrängung, Abwertung und Diskriminierung von Sexarbeiter*innen sind bis heute unsere Diskriminierungsrealität und sollten im Kontext der Geschichte behandelt werden, aber auch im Hinblick auf ihre Gegenwart.

2. Mich irritiert, dass sie sowohl in der Ankündigung der PK als auch durch die Inschrift ausschließlich auf verfolgte Frauen abstellen. Gewerbsmäßige Unzucht wurden von Personen aller Geschlechtsidentitäten ausgeübt, und auch hier sind ja bereits mehrere Biografien rekonstruiert worden, abgesehen von der wohl bekanntesten Liddy Bacroff.

3. Ort und Format des Kantsteins lösen in mir Irritation aus: Die Herbertstraße war in der von Ihnen angesprochenen Periode kein frei gewählter Aufenthaltsort sexarbeitender Menschen, sondern ist ein Beispiel für die Kasernierung von hwG-Personen, und das nicht nur im NS. Es gab in Hamburg weitere Bordellstraßen, die vielleicht besser für Erinnerung und Gedenken geeignet wären als gerade der Bereich vor der Herbertstraße?
Sie alle sind sich bestimmt bewusst, dass die Herbertstraße und Sankt Pauli heute für die Kommerzialisierung von Sex & Crime steht, aber in den Augen von Sexarbeiter*innen kein repräsentativer oder auch nur regulärer Arbeitsort ist? Insofern wäre es wichtig  Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen beim Thema Sexarbeit im Blick zu behalten: Etwa die Verdrängung von Sexarbeiter*innen of color, Bordelle in Händen von Personen mit Verbindungen ins extrem rechte Milieu oder den heutigen Besonderheiten des Arbeitsorts Herbertstraße. Sexarbeiter*innen an Erinnerung und Gedenken ihrer historischen Kolleg*innen zu beteiligen und ihre Perspektiven sichtbar zu machen, ist daher ein weiteres Element, dass ich in Ihrem Vorhaben bisher vergeblich gesucht habe.

Ich hätte mir gewünscht, mit Ihnen in einem anderen Format und weniger unter Zeitdruck ins Gespräch zu kommen. Nochmals unterstreichen möchte ich meine große Sorge, dass durch die Gedenktafel, wie sie bisher geplant ist, ein relevantes und lang ausgebliebenes Erinnern zu Instrumentalisierung und Konflikten führen könnte. Das  wäre sicher nicht im Sinne Ihres Anliegens.
Mir scheint, in einem weniger rasanten und dafür umso umsichtigeren und sensibleren Vorgehen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven läge ein großes Potenzial, das dem wichtigen Thema deutlich gerechter werden würde.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine zeitnahe Antwort von Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen,
Ruby Rebelde

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1 Kommentar
  1. Angelika Carmen Westphal
    Angelika Carmen Westphal sagte:

    Sehr geehrte Frau Rebelde,

    vor einigen Tagen las ich einen Artikel im Flensburger Tagblatt zur geplanten Verlegung und habe mich erstmal gefreut über das längst überfällige Vorhaben.
    heute habe ich den zweiten Artikel gelesen und mir fiel auf, dass wohl keine Sexarbeiter*innen anwesend, beteiligt waren.
    Also dachte ich, ich schau mal, ob sie etwas dazu geschrieben haben.
    Danke, für Ihre klaren Worte, ihren genauen Blick und ihre klugen Gedanken dazu und natürlich auch dem Einbringen der Perspektiven, der Sexarbeiter*innen, die sie
    deutlich machen. „Nothing about us, without us“

    Ich möchte diesen offenen Brief gerne mit unterschreiben.
    Ich bin Einzelperson, Künstlerin und stehe gerne mit meinem Namen und meiner Person dafür ein.

    Ich bin zwar auch Teil des Orga-Teams der Initiative „Kappeln ist bunt“, habe aber dort noch keine Diskussionen zur Verfolgung und andauernden Diskriminierung und Entrechtung von Sexarbeiter’innen eingebracht. Die Initiative gibt es erst seit Beginn diesen Jahres.
    Wir haben uns dazu entschlossen, das Projekt von Luigi Toscano „Gegen das Vergessen“ nach Kappeln zu holen. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auch
    die Erfahrungen, die jetzt in Hamburg gemacht werden , mit als Thema plazieren.
    Ich wünsche mir, dass Sie im Rahmen dieses Projektes nach Kappeln kommen und uns als Social – Justice- Vortragende helfen, wichtige Zusammenhänge zu sehen und begreifen zu lernen für eine angemessene und umfassende Erinnerungskultur. Wir stehen noch am Anfang von der Planung. Die Ausstellung wird im Juli 2025 stattfinden.
    Ich werde gerne wieder auf sie zugehen mit einer entsprechenden Anfrage an Sie.

    Wenn es möglich ist, dass ich als Einzelperson diesen Offenen Brief unterstützen darf, dann sehr sehr gerne.

    Ich hoffe sehr, dass Sie Gehör finden mit Ihrem Offenen Brief und vielleicht wird, dass was versäumt wurde, durch Ihren Einsatz auch verstanden und mündet hoffentlich in einer würdigen Praxis, ohne Ausgrenzung der Sexarbeiter*innen.

    Mit herzlichen Grüßen,

    Angelika Carmen Westphal
    Förde-Portraits
    A.C.Westphal
    An der Kirsebek 45
    24376 Kappeln
    Mobil: 01573 / 72 86 806

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